Die Erzählperspektive – Teil 2: Wenn eine Figur die Geschichte erzählt

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In jeder literarischen Geschichte werden Figuren, Orte und Ereignisse durch mindestens einen Erzähler beschrieben. Eine Möglichkeit dabei ist es, alles durch die Augen der Figuren selbst wiederzugeben. Sie ist relativ einfach zu schreiben und vermittelt dem Leser die, aktuell in der Literatur gewünschte, Nähe zu einem Charakter. Aber es ist schwierig diese Erzählperspektive über die komplette Geschichte hinweg durchzuhalten.

Wird eine Geschichte direkt durch eine Figur des Buches erzählt, dann spricht man von einem Ich-Erzähler oder Erzähler in der 1. Person. In diesem Fall weiß der Leser alles, was auch die Figur weiß. Es werden die Gedanken, Gefühle und Entscheidungen direkt vermittelt.

Du kannst den Ich-Erzähler in verschiedenen Varianten anwenden. Aus der Sicht einer einzelnen Figur oder auch mehrerer Figuren sind problemlos möglich. Die etwas spezielleren Varianten, die Geschichte durch eine nahezu Unbeteiligte oder einer nicht zuverlässigen Figur erzählen zu lassen, können aber auch sehr reizvoll sein.


Weitere Teile des Beitrags:

Die Erzählperspektive – Teil 1: Die Wahl der richtigen Perspektivfigur

Die Erzählperspektive – Teil 3: Wenn die Geschichte von außen erzählt wird

Die Erzählperspektive – Teil 4: Weitere Infos & Hilfe bei der richtigen Wahl


Inhaltsverzeichnis

Aus der Sicht einer Figur

Eine beliebte Form einen Text wie einen Roman, eine Kurzgeschichte oder eine Novelle zu schreiben, ist es, sie aus der direkten Sicht nur einer Figur heraus zu schreiben. Oftmals handelt es sich hier um den Protagonisten.

Mit dieser Erzählperspektive erzeugst du eine starke Nähe und damit eine hohe Identifikation des Lesers mit der Figur. Man muss zusammen das Geschehen der Geschichte erarbeiten.

Problem an dieser Art der Beschreibung, der Leser hat wenig Wissen zum Gesamtgeschehen. Er weiß und erlebt nur das, was auch die Figur weiß und erlebt. Was du dabei beachten musst: Die eine Figur, die du dir ausgesucht hast, ist der einzige Erzähler und muss somit in jeder Szene anwesend sein. Du kannst nicht einfach hin und her springen.

Eine weitere Besonderheit bei Erzählungen in der 1. Person, auf die du achten musst, ist die Stimme, mit der erzählt wird. Diese muss zum Charakter passen. Ein 16-Jähriges Schulmädchen spricht anders als ein 50-jähriger Philosophieprofessor oder ein Bandenmitglied. Du musst hier eine einzigartige Stimme kreieren, denn das macht deinen Roman dann im Nachhinein aus. Achte also auf Wortwahl, Aussprache, Grammatik und Satzbau deiner Figur, welche die Geschichte erzählt.

Aus der Sicht mehrerer Figuren

Wenn mehrere Figuren die Geschichte erzählen, hast du einerseits mehr Freiheit und kann verschiedene Aspekte der Geschichte darstellen. Andererseits musst du aber auch mehrere Stimmen für die einzelnen Charaktere entwickeln, deren Gedanken, Gefühle und die Gründe für gewisse Entscheidungen und Handlungen innerhalb der Geschichte kennen.

Gut geeignet ist so ein Ansatz, wenn du ein Ereignis, z. B. ein Autounfall oder einen Anschlag, von mehreren Seiten zeigen möchtest. Der Autofahrer und die Witwe des Beifahrers haben unterschiedliche Sichtweisen auf die Situation.

Wichtig ist, dass die Sichtweisen sich unterscheiden. Wenn alle sagen, das war ein Unfall, den keiner verhindern hätte können, wird keiner das Buch weiterlesen. Achte darauf, dass Konflikte entstehen.

Hier mal ein kleines Beispielszenario: Die Witwe, die beste Freundin der Frau des Fahrers, engagiert einen Anwalt, um den Fahrer, also den Mann ihrer besten Freundin, zu verklagen. Sie braucht das Geld, um in dem noch nicht abbezahlten Haus weiter leben zu können. Der Fahrer ist sich keiner Schuld bewusst und einfach nur glücklich, überlebt zu haben, um die Geburt und das Aufwachsen seiner Tochter mitzuerleben. Hier kannst du an mehreren Punkten ansetzen um Spannung zu erzeugen. Die unterschiedlichen Gefühle und Motive der Witwe und des Fahrers, aber auch die Entwicklung der Freundschaft zwischen den beiden Frauen, kann einen guten Konflikt darstellen.

Ein anderer Ansatz für mehrere Ich-Erzähler wäre es, wenn du deine Geschichte als einen Briefwechsel zwischen zwei Personen schreibst. Auch hier ist die Multi-Perspektive der 1. Person die richtige Wahl. Bestes Beispiel dafür ist Bram Stokers Dracula. Die gesamte Geschichte besteht nur aus Briefen, Tagebucheinträgen, Telegrammen und Zeitungsberichten.

Was diese Erzählperspektive für den Leser so interessant macht ist, das er sich in mehrere Personen hineinversetzen und deren wahre Motivation erkennen muss. Im Gegensatz zur einzelnen Erzählfigur, wird dem Leser nicht vorgegeben, was er denken soll, er kann seine eigenen Rückschlüsse ziehen. Das kann, richtig umgesetzt, sehr stimulierend für den Leser sein.

Der Beobachter am Rande

In den meisten Geschichten, die in der Ich-Perspektive geschrieben sind, ist der Protagonist die Erzählfigur. Das liegt daran, dass du mit einer Figur eine 200 bis 300 Seiten lange Geschichte füllen musst. Sie muss also viel zu erzählen und einen dominanten Charakter haben, damit sie die Geschichte auch vorantreiben kann.

Aber auch mal aus der Sicht einer kaum involvierten Person zu schreiben, kann für den Leser sehr interessant sein.

Wichtig hierbei ist, dass diese Figur dem eigentlichen Protagonisten nicht hilft. Sie erzählt nur dass, was sie aus der Ferne beobachtet oder jemand anderes ihr erzählt hat. Sie greift nicht in das Geschehen ein und ist auch nicht die Lösung für alles, sie beobachtet nur vom Rande aus.

Ein Literaturklassiker wäre hier z. B. Der große Gatsby. Die Geschichte wird vom Nachbarn erzählt, der gerade erst dort eingezogen ist und daher vieles nur durch Hörensagen weiß. Eigentlich hat er kaum bis keinen Berührungspunkt zum Hauptcharakter.

Der unzuverlässige Ich-Erzähler

Einige Autoren setzen ganz bewusst den unzuverlässigen Ich-Erzähler ein. Hier wird die Geschichte aus der Perspektive einer Figur erzählt, auf dessen Erzählung man sich nicht verlassen kann.

Beispiele für unzuverlässige Erzähler sind beispielsweise:

  • ein kleines Kind, das es nicht besser weiß
  • eine Person, die eine Gehirnerschütterung mit einhergehendem Gedächtnisverlust hat
  • ein Autist, der die Ereignisse in seiner Welt völlig anders versteht
  • ein Drogenabhängiger, der so high ist, dass alles nur im Nebel liegt
  • ein pathologischer Lügner

Bei dieser Erzählperspektive ist es wichtig, dass du den Leser von Anfang an informierst, dass er sich auf das gesagte und die Handlungen nicht zwingend verlassen kann.

Beachte, dass du hier zwei Versionen deiner Geschichte entwerfen musst. Die Echte und die Gelogene. Der Leser muss beim Lesen selber herausfinden, was jetzt die Wahrheit ist. Das Nichtwissen, was Realität und was Täuschung ist, kann eine Geschichte sehr spannend machen.

Wenn du dich für einen oder mehrere Ich-Erzähler entscheidest, dann empfehle ich dir die Figur/die Figuren ähnlich deinem eigenen Charakter und deinem Sprachstil anzulegen. Ein vulgäres Bandenmitglied im Ich-Stil zu schreiben, wenn du nicht einmal Scheiße sagen kannst, wird schwer und überzeugt dann auch den Leser nicht.

In diesem Fall solltest du dir mal den nächsten Beitrag, Die Erzählperspektive – Teil 3: Wenn die Geschichte von außen erzählt wird, anschauen.

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